Dietrich Bonhoeffer über Matthäus 7
"Richten die Jünger, so richten sie Maßstäbe auf über Gut und Böse. Jesus Christus aber ist kein Maßstab, den ich auf andere anwenden könnte. Er ist es, der mich selbst richtet und mir mein Gutes als ganz und gar Böses enthüllt. Damit aber ist mir verboten, auf den Anderen anzuwenden, was mir nicht gilt. Ja, mit dem Richten nach Gut und Böse bestätige ich den Anderen gerade in seinem Bösen; denn auch er richtet nach Gut und Böse. Aber er weiß nicht um die Bosheit seines Guten, sondern rechtfertigt sich darin. Wird er von mir in seinem Bösen gerichtet, so wird er in seinem Guten bestätigt, das doch niemals das Gute Jesu Christi ist, und so gerade wird er dem Gericht Christi entzogen und einem menschlichen Gericht unterstellt. Ich selbst aber ziehe das Gericht Gottes über mich herbei, denn ich lebe nun nicht mehr aus Gnade Jesu Christi, sondern aus der Erkenntnis des Guten und Bösen und verfalle dem Urteil, an das ich mich halte. Gott ist einem jeglichen der Gott, als den er ihn glaubt.
[...]
Richten macht blind, aber die Liebe macht sehend. Im Richten bin ich blind gegen mein eignes Böses und gegen die Gnade, die dem Anderen gilt. In der Liebe Christi aber weiß der Jünger um alle denkbare Schuld und Sünde, denn er weiß um das Leiden Jesu Christi, zugleich aber erkennt die Liebe den Anderen als den, dem unter dem Kreuz vergeben ist. Die Liebe sieht den Anderen unter dem Kreuz, und eben darin ist sie in Wahrheit sehend. Ginge es mir beim Richten wirklich um die Vernichtung des Bösen, so würde ich das Böse dort suchen, wo es mich eigentlich bedroht, nämlich bei mir selbst. Suche ich aber das Böse beim Andern, so wird gerade darin offenbar, dass ich auch in solchem Richten mein eignes Recht suche, dass ich in meinem Bösen ungestraft bleiben will, indem ich den Anderen richte. So ist die Voraussetzung alles Richtens der gefährlichste Selbstbetrug, dass nämlich mir das Wort Gottes anders gelte als meinem Nächsten. Ich mache ein Sonderrecht geltend, inem ich sage: mir gelte die Vergebung, dem Anderen aber das richtende Urteil. Weil aber die Jünger von Jesus kein eigenes Recht bekommen, das sie einem Anderen gegenüber geltend zu machen hätten,, weil sie nichts empfangen als seine Gemeinschaft, darum ist das Richten als die Anmaßung eines falschen Rechtes über den Nächsten dem Jünger ganz und gar verwehrt.
[...]
Den anderen Menschen sehen und erkennen in seiner Schwäche, in seinem Unrech, und ihn niemals richten, ihm die Botschaft ausrichten müssen und doch die Perlen niemals vor die Säue werfen - das ist ein schmaler Weg. Es ist ein unerträglicher Weg. Jeden Augenblick droht der Abfall. Solange ich diesen Weg als den mir zum Gehen befohlenen erkenne und ihn in der Furcht vor mir selbst gehe, ist er in der Tat unmöglich. Sehe ich aber Jesus Christus vorangehen, Schritt für Schritt, sehe ich allein auf ihn und folge ihm, Schritt für Schritt, so werde ich auf diesem Wege bewahrt."
Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge. Hrsg. v. Martin Kuske und Ilse Tödt. 3. Aufl. d. Taschenbuchausgabe. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008 (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 4, 3. Aufl. 2002), S. 179-180 + 184.
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Richten macht blind, aber die Liebe macht sehend. Im Richten bin ich blind gegen mein eignes Böses und gegen die Gnade, die dem Anderen gilt. In der Liebe Christi aber weiß der Jünger um alle denkbare Schuld und Sünde, denn er weiß um das Leiden Jesu Christi, zugleich aber erkennt die Liebe den Anderen als den, dem unter dem Kreuz vergeben ist. Die Liebe sieht den Anderen unter dem Kreuz, und eben darin ist sie in Wahrheit sehend. Ginge es mir beim Richten wirklich um die Vernichtung des Bösen, so würde ich das Böse dort suchen, wo es mich eigentlich bedroht, nämlich bei mir selbst. Suche ich aber das Böse beim Andern, so wird gerade darin offenbar, dass ich auch in solchem Richten mein eignes Recht suche, dass ich in meinem Bösen ungestraft bleiben will, indem ich den Anderen richte. So ist die Voraussetzung alles Richtens der gefährlichste Selbstbetrug, dass nämlich mir das Wort Gottes anders gelte als meinem Nächsten. Ich mache ein Sonderrecht geltend, inem ich sage: mir gelte die Vergebung, dem Anderen aber das richtende Urteil. Weil aber die Jünger von Jesus kein eigenes Recht bekommen, das sie einem Anderen gegenüber geltend zu machen hätten,, weil sie nichts empfangen als seine Gemeinschaft, darum ist das Richten als die Anmaßung eines falschen Rechtes über den Nächsten dem Jünger ganz und gar verwehrt.
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Den anderen Menschen sehen und erkennen in seiner Schwäche, in seinem Unrech, und ihn niemals richten, ihm die Botschaft ausrichten müssen und doch die Perlen niemals vor die Säue werfen - das ist ein schmaler Weg. Es ist ein unerträglicher Weg. Jeden Augenblick droht der Abfall. Solange ich diesen Weg als den mir zum Gehen befohlenen erkenne und ihn in der Furcht vor mir selbst gehe, ist er in der Tat unmöglich. Sehe ich aber Jesus Christus vorangehen, Schritt für Schritt, sehe ich allein auf ihn und folge ihm, Schritt für Schritt, so werde ich auf diesem Wege bewahrt."
Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge. Hrsg. v. Martin Kuske und Ilse Tödt. 3. Aufl. d. Taschenbuchausgabe. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008 (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 4, 3. Aufl. 2002), S. 179-180 + 184.
joseph_egger - 21. Jan, 18:19
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